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Do 2. Juni 2011: St. Petersburg, Zarskoje Selo, Puschkin, Luga (184 km)

Abfahrt am Newski Prospekt, Gepäck für 7 Wochen
Ade, Sankt Petersburg!
Nach drei weißen Nächten in St. Petersburg breche ich hochmotiviert um kurz vor 7 h mit ultraleichtem Gepäck am Newski Prospekt auf. Erster Zwischenstopp ist das etwas unscheinbar klingende "Zarendorf" Zarskoje Selo in Puschkin, gut 30 km südlich von St. Petersburg. Eigentlich bin ich noch am Verdauen der unbeschreiblichen Pracht von Eremitage und Peterhof, aber den Katharinenpalast mit dem rekonstruierten Bernsteinzimmer darf man sich natürlich nicht entgehen lassen. Auch er trägt unverkennbar die Handschrift des Hofarchitekten B.F. Rastrelli (1700 - 1771) und sieht fast aus wie eine blaue Version des grünen Winterpalastes der Eremitage in St. Petersburg, nur vielleicht noch größer, breiter, goldener, prächtiger. Das scheint mir allgemein die Devise der Romanows gewesen zu sein.
Katharinenpalast im "Zarendorf"
Und weil man mit dem Zeitgeist ging, baute jede Generation neue Paläste, wie den etwas strengeren klassizistischen Alexanderpalast im Zarendorf, nachdem Rastrellis Barockstil etwas aus der Mode kam.
Katharinenpalast: barock
Alexanderpalast: klassizistisch
Kurz nach 9 h bin ich vor Ort und kriege gleich einen Dämpfer verpasst, der Katharinenpalast ist für Individualtouristen wie mich nur von 12 - 13 h geöffnet. Puh, drei Stunden lang untätig herumsitzen, das ist hart am ersten Tag. Ich versuche mich am schönen Park und der wirklich spektakulären Fassade des Katharinenpalastes zu erfreuen, aber ganz ohne Bewegung ist es schon kalt hier im sehr feuchten Morgennebel. Mein minimalistisches Kleidungs-Kalkül war gewesen, dass ich tagsüber eh in Bewegung und nachts im Schlafsack bin. So muss ich denn immer wieder zum Aufwärmen ein paar Hampelmänner vor den schwer beladenen Atlanten an der Fassade machen. Diese sind seit der Zerstörung des Palastes im Zweiten Weltkrieg heute ockerfarben gestrichen, früher waren sie tatsächlich vergoldet.

Gegen 10 h öffnet zum Glück in einem Seitenflügel das Puschkin-Lyzeum-Museum, das recht sehenswerte Elite-Gymnasium, das Alexander Puschkin besucht hat, den die Russen so sehr lieben. Er wird mir bis nach Abchasien hinein noch in unzähligen Monumenten begegnen. Mit einer Aufseherin komme ich ins Gespräch, sie bekommt feuchte Augen, als ich sage, ich sei aus Deutschland - dabei hatte ich noch überlegt, ob ich das hier überhaupt sagen sollte, nach allem, was sich hier abgespielt hat. Aber sie war einmal in der DDR und fand es traumhaft dort. Sie überschüttet mich mit Glückwünschen und beteuert immer wieder, wie viel besser wir es hätten. Auf diese Reaktion werde ich die ganze Tour über stoßen: dass kein einziger Russe, mit dem ich spreche, etwas gegen Deutsche hat, im Gegenteil. Und dass man Deutschland nicht mit dem Westen, sondern mit der DDR gleichsetzt, und entweder man selber oder ein Familienmitglied einmal in der DDR stationiert war und es super fand. Bis in den tiefsten Kaukasus hinein höre ich ähnliche Aussagen.
Lieblingsdichter der meisten Russen
Puschkins Schlafzimmer im Lyzeum
Vor dem Katharinenpalast muss anschließend in der mittlerweile prallen Sonne eine gute Stunde Anstellerei (ohne Fahrtwind!) durchgestanden werden, ehrlich gesagt eine der anstrengendsten der Tour. Die feuchte Hitze und vor allem meine Ungeduld brodeln. Anschließend nochmal warten an der Kasse, danach am eigentlichen Eingang ... wie viele entgangene Kilometer lösen sich vor meinem geistigen Auge in Luft auf! Entschädigt wird der Besucher mit wirklich unvorstellbarem Prunk, endlosen Gangfluchten und dem in 27 jähriger Arbeit rekontruierten Bernsteinzimmer.
Im Katharinenpalast
Rekonstruiertes Bernsteinzimmer
Das traurigste Kapitel: 1944 war der Palast von der deutschen Wehrmacht bis auf die Grundmauern zerstört worden. Anschließend wurde alles so gut es ging rekonstruiert.
Zerstörungen 1944
Rekonstruktionsarbeiten
Nun, mitten am Nachmittag, kann die Fahrradtour richtig losgehen. Zunächst über Gatschina nach Süden auf gut geteerter und vielbefahrener Landstraße. In Luga nehme ich die Abzweigung nach Osten Richtung Weliki Nowgorod und schlage um Mitternacht hinter ein paar Bäumen mein Nachtlager auf. Was sich am Morgen abgezeichnet hat, wird nun zum ernsthaften Problem: es ist total kalt, feucht und voller Mücken hier. Darauf bin ich nun gar nicht vorbereitet, der Comfort-Bereich meines neuen 630g leichten Schlafsacks geht nur bis +9 Grad. Ich hätte erstens die Landkarte genauer studieren sollen, auf welchem Breitengrad wir uns hier befinden (dem gleichen wie Oslo). Und dann fällt mir wieder ein, dass St. Petersburg ja auf einem Sumpf erbaut wurde. Die Nacht wird wie die folgenden drei Nächte bis Moskau recht unangenehm, Kälte und Mücken rütteln mich immer wieder aus dem Schlaf, bis die Müdigkeit wieder die Oberhand gewinnt. Beim nächsten Mal würde ich einen leichten Innenschlafsack mitnehmen und den in Moskau per Post nach Hause schicken.

Fr 3. Juni 2011: Weliki Nowgorod, Krestcy (207 km)

Als ich aufwache, stehen zwei Frauen neben mir auf der Wiese, die sich über etwas unterhalten. Sie wohnen im Dorf etwas abseits der Straße und beschließen, mich gleich mitnehmen. Na gut, ein Frühstück ist zeitlich drin. Es schmeckt fantastisch, alles kommt aus Eigenanbau, 100 % chemiefrei. Das Dorf ist Idylle pur, verzierte Holzhäuser, Birken, Tulpen, Gemüsegärten, ein paar Hühner laufen frei herum. Zu jedem Haus gehört natürlich eine Banja, die russische Sauna. Das Haus der einen Dame ist eher traditionell und ohne viele Elektrogeräte, sie wohnt nur im Sommer hier. Im Winter, wenn meterhoher Schnee liegt, wohnt und arbeitet sie in St. Petersburg. Das Holzhaus der Nachbarsfamilie ist eines von zwei ganzjährig bewohnten Häusern und topmodern: mehrere Fenseher, Internet, Karaoke-Anlage. Auf dem Kamin steht ein kleines Stalinporträt, an der Wand hängt ein Braunbär. Ich werde gleich in die vollautomatische Massage-Dusche gesteckt, abends würden sie mir gern in der Banja ein paar Birkenzweige überziehen. Und nicht nur um mein leibliches Wohl kümmern sich die Beiden: übermorgen würden sie mich sogar auf eine Wallfahrt mitnehmen. Das ist ihr großes Hobby, sie sind praktisch jedes zweite Wochenende zu irgendeinem Kloster unterwegs. Ansonsten lieben sie den Sommer in ihrem Dorf über alles, ein Stadtleben würde sie auf Dauer krank machen, sagen sie.
Mein Frühstück
Russische Banja
Typisches Holzhaus
... von innen
Ich könnte noch ewig hierbleiben, aber ich bin ja auf Fahrradtour, also breche ich Punkt Mittag bei starkem Rückenwind und praktisch null Verkehr nach Weliki Nowgorod auf. Ich bin jetzt auf der vom Moskauer Fahrradclub ausgearbeiteten "3-Hauptstädte-Tour" von Moskau über Weliki Nowgorod nach St. Petersburg (die Reise kann über Ost Impuls gebucht werden).
Die Straße ist mal gut ...
... mal holprig
Weliki Nowgorod ist eine der ältesten Städte Russlands und war im Mittelalter eine bedeutende Handelsstadt - als St. Petersburg noch ein Sumpf war. Das Herz von Nowgorod ist wie in Moskau ein Kreml, in dem sich u.a. Kirchen und Munitionslager befinden. Und ein Denkmal zum tausendjährigen Jubiläum des Beginns der Herrschaft Ruriks in Nowgorod, was als Beginn der russischen Geschichte gilt.
Kreml in Weliki Nowgorod
Denkmal "1000 Jahre Russland" im Kreml von Nowgorod
Nowgorod: eine Kirche reiht sich an die andere
Typisches Dorf
Leider kann ich ab Nowgorod nicht westlich des Ilmensees auf Nebenstraßen nach Staraja Russa fahren, wo es ein Dostojewski Museum gäbe - "Die Brüder Karamasow" spielen hier -, weil es anschließend absolut keine Straße nach Demjansk gibt, das per Luftlinie gar nicht weit entfernt wäre (die o.g. 3-Haupstädte-Tour bietet für die Strecke einen Bustransfer an). Für mich heißt das also ab nach Osten auf die M10/E105, die Hauptverbindung zwischen Moskau und St. Petersburg. Diese Straße ist eigentlich nichts anderes als eine vierspurige Lastwagenkolonne. Als Entschädigung gibt es einen sauber geteerten, breiten Randstreifen, außerdem bringen die LKW neben Lärm und Abgasen ordentlich Rückenwind mit. Immer wieder tauchen idyllische, verschlafene Holzdörfer auf, aus deren Zentrum meist eine orthodoxe Kirche ragt. Leider durchschneidet die Hauptstraße diese Dörfer bisweilen auch ganz brutal, dann fährt die polternde Kolonne wenige Meter an märchenhaft verzierten Holzhäusern vorbei. In denen dann aber meist niemand mehr wohnt, der Boden bebt hier ja. Einmal muss ich zwecks Nahrungsaufnahme zu einem Kiosk auf die andere Straßenseite wechseln, das geht nur in einem beherzten Manöver in vollem Tempo auf die Überholspur fahrend und anschließendem U-Turn. Im Kiosk gegenüber, wo man mich beobachtet hat, bekomme ich anerkennend Tee, Krapfen und Wurstbrote geschenkt. Ich will noch bis zur Abzweigung nach Demjansk fahren. Sie kommt und kommt nicht, es wird Mitternacht ... endlich! Nach 207 Tageskilometern und 70 km Durchbrettern auf der Hauptstraße: die Abzweigung! Diese würde mit einer langen Abfahrt beginnen, aber womöglich ist es unten noch sumpfiger. Deswegen entscheide ich mich statt für noch mehr Mücken lieber für Kälte und Lärm hier oben und lege mich direkt neben der Straße ins nasse Gras.

Sa 4. Juni 2011: Demjansk, Seliger See, Ostaschkow (201 km)

Freiwillig stehe ich sehr früh auf von meinem nasskalten Biwak. "Gemütlich" ist was anderes, die bis + 9 Grad reichende Komfortzone meines Schlafsacks reicht hier um diese Jahreszeit eigentlich nicht aus. Es folgt die gut geteerte, fast verkehrsfreie und auch sonst außer Wald, Seen und zahlreichen Kriegsdenkmälern recht leere Nebenstrecke, die von der M10/E105 ins 70 km entfernte Demjansk führt.

Zwischen M10/E105 und Demjansk
Erinnerungen an den Krieg sind allgegenwärtig
Die in der Karte eingezeichneten Dörfer sind ein paar Holzhäuser mit Gemüsegärten, man sieht keine Leute, geschweige denn irgendein Geschäft. In Demjansk ist wieder mehr los, ich finde nach längerem Herumfragen sogar etwas Warmes zu essen in einer Art Garten-Grillbar mit Bestulhlung aus winzigen Schulbänken.

Anmerkung: Nebenbei lese ich auf Wikipedia über Demjansk: "Während der fünfmonatigen Kesselschlacht von Demjansk wurde der Ort vollständig zerstört.[...] Am Stadtrand befand sich während der Kämpfe ein Kriegsgefangenenlager, in dem nach offiziellen Angaben 20.000 Menschen starben." Und in einem Beitrag des Deutschlandfunks heißt es "In Demjansk war der Krieg besonders brutal.[...] Für die Zivilisten, die die deutsche Besatzung überlebt hatten, ging die Unterdrückung nach Kriegsende weiter. Denn sie galten unter Stalin als Kollaborateure."

Alle paar km: Kriegsdenkmal
Auch im kleinsten Dorfkiosk: Wodkaversorgung ist gesichert
Von Demjansk muss ich nun irgendwie zum Seliger See kommen. Angeblich sind alle Straßen dorthin "очень плохо" - ziemlich schlecht, aber zumindest sind ein paar mehr oder weniger dünne Striche auf der Landkarte eingezeichnet. Nun, zuerst geht es wieder auf Asphalt durch idyllische Holzdörfer. Dann folgen jedoch bis Svapuscha am Seliger See recht anstrengende 30 km durch tiefen Sand, der sich wie Glatteis fährt, bzw. kaum befahren lässt. Erschwerend kommen die mehrmaligen recht steilen +/- 200 HM Anstiege hinzu. Hier ist also Schieben angesagt, ich bin ja kein Eiskunstfahrer. Wenn ein Auto vorbeikommt, steht man ein Weilchen im Sandsturm. Rein optisch ist die Strecke toll, zum Fahren/Schieben eher anstrengend.

In Svapuscha treffe ich endlich auf den riesigen, zerklüfteten Seliger See. Es gibt viele Hinweisschilder auf alle möglichen Freizeitangebote, der See ist ein bedeutendes Ausflugsziel. Auf ein Abedessen treffe ich aber erst 50 km später in Ostaschkow am östlichen Seeufer. Die Strecke dahin geht meist durch dichten Wald. Wäre es hügeliger, würde ich mich wie im Bayerischen Wald fühlen. Um 22:30 h endlich Ostaschkow! An der Ortseinfahrt stehen halbexplodierte Fabrikgebäude, dann fehlt immer wieder mal ein Stück Straße, so dass man im Zentrum mitten auf der Kreuzung im Sand steckenbleibt. Doch dann tut sich hinter dem Lenindenkmal ein verwunschener Kirchturm in einer für mich gänzlich unbekannten Architektur auf, und der Ort beginnt sehr interessant zu werden. Vor allem aber finde ich ein Keller-Restaurant, wo ich endlich selig eine Riesenportion Borschtsch löffeln darf. Ich fahre noch bis halb 2 h morgens, um die 200 km vollzumachen. Es wäre ein wunderbarer Biwakplatz gleich neben der sehr ruhigen Straße, wenn mich nicht die Mücken wieder so zurichten würden. Außerdem werde ich aus dem Schlaf gerissen, als sich der Borschtsch aus irgendwelchen Gründen zurückmeldet. Hatte ich vor lauter Hunger zu viel gegessen? Es sollte zum Glück mein einziger körperlicher Zwischenfall auf der ganzen Tour bleiben.

So 5. Juni 2011: Torschok (206 km)

Laut meiner 1:2'000'000 Reise Know-How Karte sollte zwischen Ostaschkow und Torschok nun in etwa 20 km ein Dorf namens "Zhilino" oder so kommen. Dort hatte ich angedacht zu frühstücken. Nun stellt sich heraus, dieses Dorf existiert nicht bzw. besteht nur aus einer Bushaltestelle. So muss ich für den ersten Bissen des Tages ins über 65 km entfernte Kuwschinowo radeln. Abgesehen davon ist die Strecke wirklich angenehm zu fahren, sehr waldreich und verkehrsarm. Ein Verkehrsschild weist auf das nächste Telefon in 20 km hin. Aber Handynetz gibt es zwischen Petersburg und Moskau ständig.

Endlich das Dorf Kuwschinowo, wo ich an der ersten Kreuzung frage, wo es denn ins Zentrum geht. Ach so, das hier ist schon das Zentrum - haha, das ist Russland! Zumindest gibt es Piroschki und Bier an der Bushaltestelle, was will der hungrige und seit dem nächtlichen Vorfall recht dehydrierte Radfahrer mehr? Nix. An einer Waldeinfahrt treffe ich auf eine nette russische Familie, die grad vom Wochenende am Seliger See zurückkommt und hier Wodka-Pause macht. Ich kriege alles angeboten, was noch zu essen und zu trinken da ist. Ein orange-schwarzes St.-Georgs-Bändchen zum Gedenken an den "Großen Vaterländischen Krieg", wie es an vielen Autos flattert, wird mir von dem nicht mehr redefähigen, aber sehr zufrieden aussehenden Vater wortlos an den Lenker gebunden. Dass ich eine fast volle Wodkaflasche nicht als Proviant mitnehmen will, stößt auf völliges Unverständnis, sie wandert immer wieder in meine Lenkertasche zurück. Ich kann sie erst nach dem Abschiednehmen auf den Boden stellen und schnell wegfahren.
Herzlicher Empfang
Auch für mich ein Bändchen
Kurz vor der Einfahrt zurück auf die M10/E105, die Moskau mit St. Petersburg verbindet, erfreut Torschoks Stadtbild das Auge, eine Vielzahl von Kirchen steht zwischen klassizistischen Herrenhäusern.
Torschoks Herrenhäuser
... und Kirchen

Mo 6. Juni 2011: Twer, Klin, Moskau, Roter Platz (157 km)

Beim Biwak im Autobahn-Straßengraben in Gesellschaft meiner kleinen stechenden Freunde kommt mir der erlösende Gedanke: ein Mückenspray kaufen! Warum bin ich da nicht früher draufgekommen? In Twer, etwa 150 km vor Moskau, versteht die Apothekerin sofort, was ich suche, als sie mich sieht. Am Ortsende von Klin gibt es an einem See im Wald eine Bar mit Grillstand. Gleich möchte ich hungrig und beleidigt wieder losziehen, als die Schickse von Bedienung einfach weggeht, nur weil ich nicht gleich verstehe, was man hier wie bestellen kann. Zum Glück interveniert ihr sehr freundlicher Kollege und grillt mir Kartoffelpüree. Das kommt heraus, wenn man nur "Pjuré" versteht - es klingt genauso wie bei uns. Der junge Mann kommt ursprünglich aus Baku, und eine Minute später hat er irgendwoher aus dem Wald ein russisch-deutsches Wörterbuch gezaubert, so können wir uns ein bisschen unterhalten. Etwa einmal pro Jahr fährt er in die Heimat, und zwar mit dem Zug über Astrachan, das dauert drei Tage. Ich erzähle ihm von den Eindrücken meiner letztjährigen Radtour durch Aserbaidschan und dem für uns Europäer außergewöhnlich freundlichen Menschenschlag dort. Aber dann wird er mitten in unserer Unterhaltung wieder zur Arbeit zurückgepfiffen. Das Plumsklo in besagtem Wald ein paar Schritte neben der Wirtschaft sieht katastrophal aus, aber es gibt tatsächlich fließendes Wasser zum Hände- und Haarewaschen, so ein Glück.
Kriegsdenkmäler, Kriegsdenkmäler, Kriegsdenkmäler
Aus Baku
Moskau kann kommen! Bei Sonnenuntergang fragen mich zwei junge Fahrradfahrer auf der Straße, ob sie helfen können. Sie raten mir dringend davon ab, jetzt noch nach Moskau hineinzufahren, es sei noch sehr weit, außerdem sei die Strecke eher radfahr-ungeeignet. Sie würden mir den Zug empfehlen. Ich bin dankbar für den Hinweis, radle aber natürlich weiter.

Was jetzt kommt, ist der wohl gefährlichste Teil der gesamten Tour. Ich fahre getreu den Verkehrsregeln, ordne mich beim Linksabbiegen ein wie ein Autofahrer uws. Unglücklicherweise biegen immer wieder von rechts mehrspurige Straßen herein, so dass ich mich unversehens in der Mitte einer sechs- oder achtspurigen Stadtautobahn befinde. Nun bin ich gefangen und kann nicht einmal stehenbleiben. Wie hieß dieser Film damals, in dem der Bus nicht langsamer werden durfte, ansonsten er explodieren würde, "Speed"? Links und rechts werde ich von rasenden Autos überholt, die mich natürlich nicht als Verkehrsteilnehmer ernstnehmen. Es ist Rush-Hour, der Verkehr ist aggressiv, und ich befinde mich mittendrin. Zweimal ist es tatsächlich brenzlig, Reifen quietschen, als ich die Spur wechsle. Als ich endlich am rechten Straßenrand angekommen bin, beschließe ich, ab jetzt bei bei Einmündungen von rechts lieber stehenzubleiben, bis ich die Einmündung überqueren kann (manchmal dauert das Warten eine kleine Ewigkeit), ich will ab jetzt immer am rechten Straßenrand bleiben. Im Zentrum wird der Verkehr dann etwas dünner, teilweise kann man auf den breiten Gehwegen fahren.

Die Gebäude werden zunehmend gigantischer. Das energiegeladene Moskauer Nachtleben lässt sich erahnen, Mädchen mit ultrahohen goldenen Absätzen steigen aus verdunkelten Autos. Ich staune über einige lebensmüde Rennradfahrer, die sich mit hoher Geschwindigkeit und ohne Licht durch die Autokolonnen schlängeln. Ich will nur noch irgendwie zum Roten Platz kommen.
Stadtrand von Moskau
Am Weißrussischen Bahnhof
Punkt Mitternacht, nach 5 Tagen und 955 km, mit Rückenwind und ohne größere Probleme, bin ich tatsächlich am ersten Etappenziel meiner Radtour! Und im Herzen von Russland, wovon schon so mancher westeuropäische Diktator vergebens geträumt hat.

Vollkommene Glückseligkeit!

Auf dem Roten Platz: Kaufhaus GUM
Basilius Kathedrale
Nun brauche ich noch eine Übernachtung. Leider funktionieren die Internet-Hotelbuchungsseiten nach Mitternacht nicht mehr für den Vortag, außerdem ist der Akku meines Telefons schon schwach, Freunde anrufen will ich auch nicht mehr (zu horrenden Roaming-Preisen), sondern einfach nur: ein Bett. Nun ist Moskau nicht St. Petersburg, wo man auch im Zentrum relativ günstig übernachten kann. Nochmal durch den Stadtverkehr radeln kommt definitiv nicht in Frage, so gehe ich ins Hotel Metropol gleich am Roten Platz. Nicht ganz billig, aber nach den Nächten im Straßengraben muss das drin sein. Dafür bekommt man auch ein einzigartiges Flair geboten für seine paar Hundert Euro, fast zu schade zum Verschlafen.